(Ich wurde gefragt, ob ich in diesem Text von mir erzähle. Ja! Es war vor vielen Jahren.)
Sie kommt so plötzlich und mit einer solchen Wucht, dass mir der Mund offen bleibt. Mein Atem hält an.
Wie ein heißer Topf klebrig roter Himbeermarmelade rinnt sie von den Wangen direkt in die Eingeweide.
Ich lege die Gabel ab.
Wie konnte sich eine derart große Regung vollkommen unbemerkt in mir verstecken? In welcher verborgenen Herzenskammer war sie bisher untergebracht, an der ich vorbeigelaufen bin?*
Mein inneres Auge wandert die glut-flirrende Wand hoch, die sich vor mir aufgebaut hat.
S C H A M steht da in großen, klaren Buchstaben.
Immerhin: So überwältigend sie ist, so deutlich ist sie auch.
Der Unfall
All das geschieht im Bruchteil einer Sekunde. Wie bei einem Unfall, bei dem die Beteiligten erleben, wie sich die Zeit dehnt – Splitter, Farben, Fetzen, tausend klare Gedanken, Körperwirbel – ein ganzes Leben in einem Wimpernschlag.
Mein "Unfall" passiert beim Weihnachtsessen.
Meine Eltern sind getrennt, seither treffen sich mein kleiner Bruder und ich am 24. bei meinem Vater. Ich liebe es. Wir machen es genau so, wie es uns gefällt. Zuerst drehen wir die traditionelle Runde zum Grab meiner Großmutter. Dann trinken wir Kaffee in irgendeiner Spelunke, die am Weihnachtstag geöffnet hat.
Später spielen mein Vater und ich Weihnachtslieder, mein Bruder wagt eine kurze Improvisation Stille Nacht auf der "Nasenflöte" (klingt übel, ist es auch). Wir essen zu viel und sehr fein, tanzen, lachen und öffnen unsere Geschenke genussvoll zu einem edlen Tropfen.
Und hier, an diesem Ort, wo ich mich sicher und akzeptiert fühle, passiert es.
Der Aufprall
Der Auslöser ist irgendein Nebenher-Satz. Ich habe den genauen Wortlaut vergessen. Mein Bruder erwähnt ein Geschenk, das er sich selbst oder seiner Freundin gemacht hat. Ich glaube, es handelt sich um eine Uhr. Eine teure Uhr. Oder ein Urlaub?
Es ist jedenfalls kostspielig.
Und dieses kostspielige Etwas rast in hohem Tempo um die Ecke und kracht mit 180 Sachen in mein zerbrechliches Ego.
Bäm. Flammen, Hitze, laute Buchstaben:
DU.
BIST.
BEDEUTUNGSLOS!
Die Scham
Auf meinem inneren Unfallschauplatz raucht und blitzt es. Überdimensionale Anzeigetafeln blinken rund um mich. Mein Hirn pumpt fleißig sämtliche Momente des persönlichen Versagens in großen grellen Farben raus.** Peinliche Dinge, die ich in der Öffentlichkeit gesagt habe. Ungeschickte Marketing-Versuche. Schamvolle Netzwerk-Runden wo ich einfach nicht mithalte. Der Monat, als ich keine Miete zahlen konnte. Das Weihnachten, als ich kein Geld für Geschenke mehr hatte ... Der Newsticker darunter verkündet in Durchlaufschrift: Du bist Müll du bist Müll du bist Müll.
Die Shitshow ist so übertrieben, dass nicht einmal ich sie ernst nehmen kann.***
Ich schaue auf meinen Teller. Schäme mich in Grund und Boden. Für meine "mickrige kleine Selbstständigkeit", meine "mickrigen Gehversuche", mein "mickriges kleines Leben". In dem sich noch immer keine goldenen Uhren ausgehen. Keine Luxus-Urlaube. Keine teuren … was auch immer.
Ich sehe meinem Herz zu, wie es aus den Trümmern kriecht.
Schaue benommen über den Tisch in die fröhlichen Augen meines Vaters und meines Bruders. Sie reden längst über etwas anderes. Ich überlege kurz, ihnen zu sagen, wie es mir geht. Ich weiß, sie würden alles stehen lassen und mich umarmen.
Das treibt mir die Tränen in die Augen.
Weil ich den Schmerz fühlen kann, den sie empfinden würden, wenn sie wüssten, was ich gerade über mich denke. Im Hinterkopf höre ich das beherzte "Ah non!" meiner Mutter und spüre ihre Umarmung. Sie hasst es, wenn ihr Kind so auf sich selbst eindrischt.
Teure Uhren und Statussymbole sind in meiner Familie nicht wichtig. Aber vielleicht war es genau das, was mich crashen ließ:
Ich wurde von etwas überrumpelt, wovor ich im Kreis meiner Familie normalerweise geschützt bin: Dem Druck, durch Besitz und Konsum etwas darstellen und beweisen zu müssen. Diesen Druck kenne ich zu jener Zeit als ganz junge Selbstständige aus dem Business-Alltag nur zu gut.
Und die Wahrheit ist: Zu dieser Zeit lässt mein Einkommen dieses Statusspiel nicht zu. Ich kann mich ernähren, aber ich kann nichts darstellen. (Zum Glück bin ich auch klug genug, es nicht zu versuchen.)
Aber dafür schäme ich mich. Ich schäme mich, weil ich glaube, dass es beweist, wie wertlos mein Sein und Wirken ist.
"Wenn ich wirklich was zu bieten hätte, wenn ich wirklich wertvoll wäre, hätte ich dann nicht auch Geld für teure Uhren und Urlaube?"
Ich schäme mich in Grund und Boden für meine Wertlosigkeit. Heiß, rot und eindringlich.
Das Versprechen
Während meine Gabel vom Mund zum Tisch wandert, fächern sich alle Facetten der Dynamik auf, die mich schon lange bewegt.
Das Ringen um meinen Wert und eine Bedeutung für die Gesellschaft, dargestellt durch Geld und Besitz.
Die Such(t)e nach Geld, nicht nur um zu überleben, sondern auch, um meine Scham zu lindern.
Und dann das Geld, das sich scheinbar immer entzieht (wie der unerhört heiße, aber emotional unerreichbare Typ, auf dessen Anruf ich länger gewartet habe, als ich hier zugeben will).
Ich sehe das kleine Mädchen auf dem Schulhof. Die Szenen des sozialen Aussortierens anhand von Kleidung, Spielzeug, Gadgets, die wir wohl alle kennen. ****
Im Zeitlupentempo löst sich eine zweite Gestalt aus der Feuerwand der Scham.
Sie ist warm, nicht heiß. Sie ist weich, nicht scharf. Ich umrunde sie, weil ich ihren Namen nicht erkennen kann. Sie legt ihre Fingerspitzen auf meine glühend roten Wangen. Ich fühle mich klein und schwach und stark und mutig und schön und echt und gut und lebendig und alles auf einmal.
Wie ein Vogel von oben sehe ich, wie verzweifelt ich versuche, einen Wert zu beweisen, der nie zur Debatte stand.
In diesem Moment weiß ich, dass ich immer haben werde, was ich brauche. Das bedeutet aber auch, dass ich nicht bekommen darf, was ich so dringend suche: Einen Berg von Geld, unter dem ich meine Minderwertigkeitsgefühle vergraben kann.
Auf der Wegstrecke meiner Gabel vom Mund zum Tisch lege ich ein Versprechen ab.
Die Zukunft
Als die Gabelzinken das Tischtuch berühren, entbinde ich das Geld von der Erwartung, den Leuten zu zeigen, dass ich gut genug bin.
Erleichtert rückt es an seinen guten Platz. Mir war nicht bewusst, mit wie viel seelischem Druck ich meine Finanzen beladen hatte.
Ich schaue mich um, bin wieder im Raum mit meiner Familie.
Ich sehe meine Wünsche für eine bessere Zukunft. Aber zum ersten Mal seit langem fühlt es sich nach optimistischem Streben statt nach hoffnungslosem Sehnen an. Ja, es darf mir besser gehen. Ja, ich möchte gedeihen. Ja, es soll unbeschwerter werden mit dem Geld. Ja, da soll auch Luxus sein. Ein guter Platz in meiner kleinen Ecke der Welt, wo ich etwas bewegen kann.
Wo vorher ein Mädchen seiner Scham entrinnen wollte, möchte jetzt eine Frau etwas Gutes erschaffen.
Der Name
Dieses Erlebnis war kurz und intensiv und ist mittlerweile viele Jahre her. Doch im Rückblick war es ein Schlüsselmoment:
Er hat mich inspiriert, einen un-emotionaleren Bezug zu Geld und meiner Karriere einzuschlagen. In den folgenden Jahren bin ich Menschen begegnet, die ihr finanzielles Handwerkszeug und ihre Erfahrung mit mir geteilt haben. Habe ich diese Hilfe "manifestiert", oder war ich endlich "bereit" dafür? Ich glaube nicht. Vermutlich war es der ehrliche Blick auf meine finanzielle Scham, die Akzeptanz meiner Fehler, meines Geltungsdrangs und meiner Bedürfnisse, die mir ermöglicht haben, die Hilfe anzunehmen, die mir immer schon angeboten wurde.
Noch eins: Hier ist nicht La-La-Land. Das ahnst du bestimmt. Immer noch begegne ich ab und zu meiner alten Bekannten, der Feuerwand aus Scham. Die lästige Bitch lässt sich von Dingen wie einem besseren Einkommen, dem ein oder anderen Statussymbol und finanziellen Pölstern nicht abhalten.
Wenn uns die Scham etwas zu sagen hat, dann findet sie einen Weg, selbst wenn wir denken, jetzt erfolgreich, schlau oder schön genug zu sein. Das ist das Nervigste, aber vielleicht auch das Tröstliche an der Scham: Wenn sie als Muster in uns sitzt, dann geht sie überall hin mit - in die Gosse und ins Penthouse. Sie ruft uns auf, mit uns selbst ins Reine und in den Frieden zu kommen. Und das, schätze ich, werden wir ein Leben lang immer wieder üben.
Und dann ist da noch die mysteriöse Kraft, die die Scham begleitet. Ich suche immer noch nach ihrem Namen.
Wie ein Lufthauch, den man nur an den geblähten Vorhängen erkennt, ist sie eindeutig im Raum und doch schwer zu greifen.
Vielleicht heißt sie Liebe und Würde, Vergebung und Verletzlichkeit, Zuversicht und Sanftheit, Kraft und Schönheit.
Vielleicht ist ihr Name das Leben selbst.
* Ein Erlebnis, das ich aus Träumen kenne. Auch hier begegne ich manchmal kolossalen Emotionen und wundere mich, aus welchen ungeahnten Tiefen sich diese ungeheuren Gefühlsmassen erheben … dass es eine so vollkommen unerforschte Tiefsee in uns drin gibt, das fasziniert mich.
** Es war wie damals in New York, als ich das erste Mal aus der U-Bahn zum Times Square emporstieg. Ich kam ins Freie in eine Arena von blinkenden, grellen, himmelhohen Idealbildern. Es war fantastisch, wie Höhenangst, nur in die umgekehrte Richtung. Es war die Hölle. Es war unvergesslich!
*** Und ich nehme mich üblicherweise sehr, sehr ernst. :)
**** Es war mir immer unbegreiflich, dass ich diese grottenhässlichen Buffalos tragen sollte, um dazuzugehören. Und warum kommen ausgerechnet diese Schuhe gerade wieder zurück? Kann das wer erklären?
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Doris (Sonntag, 26 Februar 2023 11:30)
Wow . Was für eine Sprache. Ich fühl mich mittendrin .... nun auch in meinen Situationen... danke Susanna für die Buntheit deiner Sprache / deinem Geschriebenen / deinen Worten
Andrea (Sonntag, 26 Februar 2023 12:01)
Deine Worte zu lesen - sind ein Hochgenuss. Obwohl das Thema natürlich nicht so gschmackig ist. Aber sehr heilsam beim Beobachten wie du damit umgehst. Es erinnert mich an meine Erfahrungen beim Aufstellen. Wo sich etwas verändert wenn man mutig hinschaut und ihm einen guten Platz gibt. Danke liebe Susanna für dein Teilen deiner Innenschschau. Herzensgrüsse,
Andrea Jäger - Blickwinkelei
Christina (Dienstag, 17 Dezember 2024 18:08)
Wunderschön geschrieben, ich kann es so fühlen, danke fürs teilen.